Die Kurzgeschichte "Die Mondbrüder", erscheint im Wesentlichen als Kritik an der immer fortschreitenden Technisierung, die den Ersten Weltkrieg zur Ur-Katastrophe der Menschheit werden ließ. Waren die Kriege der Vergangenheit noch zu Pferd und mit Säbeln ausgefochten worden, so war nur wenigen am Vorabend des Krieges im Jahre 1914 klar, dass dieser Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Die Massenproduktion der beteiligten Nationen, an schweren und leichten Waffen, hatte ein solches Ausmaß angenommen, dass es zu Millionen an Verletzten und Toten kommen musste: "Doch, um auf ein erquicklicheres Thema zu kommen, lieber Doktor – überdies ist es höchste Zeit, daß Sie abnehmen, wollte sagen: abreisen – also auf Wiedersehen bei Magister Wirtzigh im August 1914; da ist der Anfang vom großen Ende, und wir wollen doch diese Katastrophe der Menschheit würdig begehen. Nicht?«



"Etwas begreifen", im Sinne von verstehen, bedeutet, etwas in sich zu tragen, das der Erkenntnis entspricht. Platon spricht vom Lernen als ein sich Erinnern. Kant von einer Erkenntnis, die in uns vorgeprägt sein muss (a priori). Man könnte auch sagen, dass die Seele die Form dessen annimmt, was sie erkennt.

Andererseits kann der Mensch nur das hervorbringen, was in ihm angelegt ist. Die schöpferische Handschrift verrät immer den Urheber.

Die immer schneller tickende Uhr der Zeiten wird durch immer neue, immer bessere Maschinen angetrieben und beschleunigt. Der Mensch erlebt die Hast dieser Zeiten. Deutlich wird dies im alltäglichen Tempo an den Kassen der Supermärkte, auf den Straßen, im Internet.

Meyrink erkannte, dass es die Menschen selbst waren, die diesen Krieg herbeigebracht hatten. Diese Erkenntnis schildert er aus der Sicht der "Mondbrüder", die eine Art von gespensterhaftem Wesen hatten und im menschlicher Erscheinung auftraten. Sie waren des Gestaltwechsels fähig, wie es Gespenster zu eigen ist. Ihre Sprache erscheint fremdartig und etwas naiv, jedoch mit klarem Blick auf die Menschen.

Es liegt nahe, dass die "vier Mondbrüder" eine Allegorie auf die vier Mondphasen sind. Das Aussehen des Grafen du Chazal, bei dem der Erzähler als Diener angestellt ist beschreibt Meyrink so: "Sein Profil war scharf geschnitten und hatte durch das schmale, hervorstehende Kinn und den spitzigen, grauen, nach vorn gebogenen Bart darunter etwas merkwürdig Sichelartiges." Eine Anspielung auf den sichelförmigen Mond. Herr Doktor Haselmayers Kopf, eine humorige Metapher für den Vollmond: "... so weich, wie ein gesottenes abgeschältes Ei – nicht nur, was das kugelrunde, fahle Gesicht anbelangte, sondern auch im Hinblick auf den Schädel selbst. Wenigstens quoll ihm immer, so oft er den Hut aufsetzte, alsbald eine Art blutleerer Schlauch unter der Krempe ringsherum auf und, wenn er den Hut abnahm, brauchte es stets eine bedenklich geraume Zeit, bis sein Kopf glücklich die ursprüngliche Form zurückgewonnen hatte."

Wie in der Geheimlehre der Helena Petrowa Blavatsky schildert er den Mond als Leiche. Und wie in der Geheimlehre sind für ihn die astralen Kräfte lebende Wesen: "Wie könnte es denn auch anders sein – wenn nicht Formen nur Träume wären –, daß wir nach freiem Willen jederzeit unseren Leib gegen einen anderen zu tauschen, unter den Menschen in menschlicher Gestalt, unter den Schemen als Schatten, unter den Gedanken als Idee zu erscheinen vermögen und dies kraft des Geheimnisses, uns unsere Formen gleich eines im Traum erwählten Spielzeuges zu entäußern? So wie ein im Halbschlaf Befangener sich plötzlich seines Träumens bewußt werden kann, den Trug des Zeitbegriffes in eine neue Gegenwart rücket und dem Verlauf des Traumes hierdurch eine andere wünschenswerte Richtung gibt: quasi mit beiden Füßen in einen neuen Körper hineinspringt, sintemalen der Körper im Grunde nichts ist, als ein mit der Täuschung der Dichtigkeit behafteter Krampfzustand des alles durchdringenden Äthers.«"

Eine Lampe als Metapher für die beiden Mondknoten, jenen Punkten, an denen der Mond die Ekliptik schneidet und die seit je als Drachenschwanz (absteigender Mondknoten) und Drachenkopf (aufsteigender Mondnoten) bezeichnet wurden: "Eben wollte ich eine höchst sonderbare alte Lampe, geformt wie ein durchsichtiger japanischer Götze mit untergeschlagenen Beinen (den Kopf bildete eine Kugel aus Milchglas), in deren Innern eine durch Uhrwerk bewegliche Schlange den Docht mit dem Rachen emporhielt ..."

Der Weltkrieg kam am nach heutigen dafürhalten am 28. Juni 1914 mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers. Doch an diesem Tag glaubte man noch an einen Krieg gegen Serbien und nicht an einen Weltenbrand. Erst die Julikrise zeigte das Ausmaß des Konflikts und Anfang August kam es zu den ersten kriegerischen Handlungen. Im weiteren Verlauf brachte der September die Wendung zum Stellungskrieg.

Der Roman erwähnt nun ein bestimmtes Datum. Den 4. September 1914, an dem ein Ritual vollzogen werden sollte: "Erst am 4. September kam eine leichte Unruhe über ihn. Er öffnete eine Türe, die mir bis dahin verschlossen gewesen, und führte mich in einen blauen, gewölbten Saal, der nur ein einziges, rundes Fenster in der Decke hatte. Genau darunter, so daß das Licht unmittelbar darauf fiel, stand ein runder Tisch aus schwarzem Quarz mit einer muldenförmigen Vertiefung in der Mitte. Ringsherum goldene, geschnitzte Stühle."

Der Erzähler, Diener des neuen Herrn Magister Wirtzigh, der seinem Vorgänger, dem Grafen du Chazal so ähnlich sah wie etwa der Vollmond dem Neumond - er litt an der "Schwarzsucht" - musste nun die Tischmulde mit Brunnenwasser füllen, darin sich der Mond spiegelte: "Der Vollmond mußte wohl senkrecht über dem Loch in der Saaldecke stehen, denn in der Wassermulde des steinernen Tisches schwamm sein Spiegelbild als regungslose Scheibe aus fahlgrünglühendem Silber."

Das Ritual begann mit dem lautlosen und gespenstischen Einfinden von drei Herren: "im Norden den Herrn Magister Wirtzigh, im Osten einen Fremden (Doktor Chrysophron Zagräus mit Namen, wie ich aus einem Gespräch, das sie später führten, entnahm), und im Süden, einen Kranz Mohnblumen auf dem kahlen Schädel – Doktor Sacrobosco Haselmayer.
Nur der Stuhl im Westen war leer."

Der Erzähler hielt eine Lampe, die den Mondknoten repräsentieren sollte und es war also der 4. September 1914, 24 Uhr in Wernstein am Inn. Die Sternenkonstellation an diesem Ort und zu dieser Stunde, das sogenannte Radix der Astrologen, sah so aus:



Vereinfachte Darstellung:


- Die Sonne im Norden ("im Norden den Herrn Magister Wirtzigh"),
- Saturn/Pluto im Osten, ("im Osten einen Fremden (Doktor Chrysophron Zagräus mit Namen")
- Der Mond im Süden, ("im Süden, einen Kranz Mohnblumen auf dem kahlen Schädel – Doktor Sacrobosco Haselmayer.")
- Im Westen steht kein Planet, ("Nur der Stuhl im Westen war leer.")

Tatsächlich befand sich der Mond in der Himmelsmitte (MC) und in zusammenstand (Konjunktion) mit dem aufsteigenden Mondknoten (Drachenkopf). Es war Vollmond (Sonne, Opposition Mond), die Sonne stand also in der Himmelstiefe (IC), in zusammenstand (Konjunktion) mit dem absteigenden Mondknoten (Drachenschwanz).

Alles richtig, Herr Meyrink. Sie haben die passende Zeit und den passenden Ort gewählt. Die Sterne standen zu dieser Zeit genau so, wie in Ihrer Kurzgeschichte beschrieben. Und wie ich ergänzen darf, standen Saturn und Pluto, die Auslöser des Ersten Weltkrieges am Aszendenten, im Osten also. Siehe dort: Beginn der Ersten Weltkrieses und das Attentat von Sarajewo

Historisch ist der 4. September der Tag vor dem 5. September, der die Wende des Ersten Weltkrieges von einem Angriffskrieg zu einem Stellungskrieg brachte.
"Die Erste Schlacht an der Marne war eine entscheidende Schlacht des Ersten Weltkriegs und fand vom 5. bis 12. September 1914 entlang der Marne östlich von Paris statt. Der am 2. August begonnene deutsche Vormarsch der fünf Armeen des rechten deutschen Flügels verlief bis zur Marneschlacht durchaus erfolgreich, wurde aber am 5. September durch eine überraschende französisch-englische Gegenoffensive unter Marschall Joseph Joffre und Sir John French gestoppt, ab dem 9. September sogar in einen taktischen Rückzug der Deutschen an die Aisne verwandelt. Die Schlacht markiert damit den ersten Wendepunkt des Ersten Weltkrieges und das Scheitern des Schlieffen-Plans." (Schlacht an der Marne (1914))

Am 28. Juni 1914, am Tag der Ermordung des österreichischen Thronfolgers, hatte der Mond den absteigenden Mondknoten überlaufen.

Warum aber war, in der Kurzgeschichte während des Rituals, der Stuhl im Westen leer? Ich kann mir das nur so erklären: Im Süden, in der Himmelsmitte stand der Vollmond. Im Norden an der Himmelstiefe die Sonne, im Osten standen Saturn und Pluto, im Westen stand kein Planet. Diese Position blieb also leer.

Am 21. August 1914 kam es übrigens zu einer Sonnenfinsternis, die gegen Mittag über Wernstein am Inn sichtbar gewesen sein muss. Es war eine partielle Sonnenfinsternis. Meinte Mayrink die Sonnenfinsternis oder die Ermordung des Thronfolgers am 28. August, sieben Tage später, oder beides, als er schrieb: "Doch, um auf ein erquicklicheres Thema zu kommen, lieber Doktor – überdies ist es höchste Zeit, daß Sie abnehmen, wollte sagen: abreisen – also auf Wiedersehen bei Magister Wirtzigh im August 1914; da ist der Anfang vom großen Ende, und wir wollen doch diese Katastrophe der Menschheit würdig begehen. Nicht?«"

Im August 1914 erfolgten die Kriegserklärungen:
1. August: Französische (15.55 Uhr) und deutsche Generalmobilmachung (17 Uhr) für den Folgetag beschlossen, deutsche Kriegserklärung an Russland
2. August: Deutsches Ultimatum an Belgien und Besetzung Luxemburgs
3. August: Deutsche Kriegserklärung an Frankreich
4. August: Deutscher Einmarsch in Belgien
4. August: Kriegserklärung Großbritanniens an Deutschland
6. August: Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Russland
8. August: Kriegserklärung Großbritanniens an Österreich-Ungarn
(de.wikipedia.org/wiki/Julikrise)

"Nur zuweilen des Nachts kommt es gar seltsam über mich, und mir ist, als gähne in meiner Brust ein leerer Raum, unendlich nach Osten, Süden, Westen und Norden, und mitten darin schwebt der Mond, wächst zur glänzenden Scheibe, nimmt ab, wird schwarz, taucht wieder auf als schmale Sichel, und jedesmal sind seine Phasen die Gesichter der vier Herren, wie sie zuletzt um den runden steinernen Tisch saßen."