In keiner der mir bekannten Dokumentationen und in kaum einem Kunstband über diese Stilrichtung hört man etwas über die wahren Hintergründe des im 12. Jh. aufkommenden neuen Baustils. Diese Art von Stilkunde wirkt für viele wie ein Schlafmittel. Gibt es dazu nichts weiter zu sagen, als die Stilelemente Spitzbogen, Kreuzrippengewölbe und Stützpfeiler aufzuzählen?. Das Nachplappern des Gehörten ist wohl mit Recht nichts weiter wert als eine Tüte Eis für den Sprössling: Sinnlose Dressur also!

Für Menschen, die nach geistiger Tiefe dürsten, verkünden die Erleuchteten des 20. und 21. Jahrhunderts die "Blume des Lebens". Ein Titel, der jeden Jünger dazu veranlasst, diejenigen zu belächeln und anschließend zu belehren, die noch nichts davon gehört haben. Und sogleich schwingt sich der Wissende auf, um neuerliche Belehrungen über sein Opfer zu gießen, das früher schon unter dem Spitzbogen, dem Kreuzrippengewölbe und dem Stützpfeiler gelitten hatte.

Unsere Geschichtslehrer, die Reiseführer und Kulturführer haben uns um den wesentlichen Inhalt betrogen. Sie predigten uns das Knochengerüst, die ausgezehrte Leiche einer an sich reichen und vom Geist vergangener Jahrtausende belebten Kultur.

Entstehung, Quellen und die Begründer

Der gotische Baustil setzte sich im Verlaufe des 12. Jahrhunderts durch. Gemeinhin gilt der Umbau der Abteikirche von St. Denis als erstes gotisches Bauwerk. Der zu seiner Zeit berühmte Abt Suger von St. Denis war der Bauherr und vermutlich auch der Architekt des ersten gotischen Chores. Der Rest der Abteikirche verblieb zunächst im romanischen Stil und wurde erste nach dem Tod des Abtes vollständig im gotischen Stil erneuert.


Wikimedia Westfassade vor der Abtragung des beschädigten Nordturms 1844/45

Abt. Suger von St. Denis (1081 - 1151): Es sieht zunächst so aus und wird oft fälschlicherweise angenommen, der Abt von St. Denis sei der alleinige Schöpfer des gotischen Baustils. Das ist, den Ausführungen des bekannten Historikers Otto Simson zufolge, nicht der Fall.

Siehe dazu die ZDF Doku: Vom Dunkel ins Licht - Die Erfindung der Gotik

Licht, die zentrale Idee der Gotik: Der gotische Baustil, der als Gegenentwurf zur Romanik galt, zeichnete sich vor Allem durch die Lichtfülle aus, die das Innere der Kathedrale erhellt. Dies wurde erreicht durch Abführen des Dachschubes nach Außen. Daher sehen gotische Bauwerke von außen aus wie Igel. Die tragenden Elemente ragten weit nach Außen. Dadurch konnten die Wände mit großen Fensterfronten versehen werden, die das Licht zu allen Tageszeiten nach innen trugen. Siehe Stil-Epochen: Gotik (5), Min. 5:20

Licht war das Motto der Gotik. Urheber dieser Idee, eines von Licht durchdrungenen Bauwerkes lieferten zwei Quellen.
Das neue Jerusalem: Erstens die Offenbarung des Johannes. Das darin beschriebene "Neue Jerusalem" war aus Glas und Licht erhellte es von innen her.
Dionysios der Areopagite: Die zweite Quelle der Licht-Idee kam von einem Heiligen, der sich Dionysios der Areopagite nannte. Er lauschte im ersten Jahrhundert den öffentlichen Ansprachen des Apostels Paulus und galt als einer der wenigen, die sich nicht darüber lustig machten oder gelangweilt waren. Dionysios wurde bekehrt, ließ sich taufen und verstarb im Jahre 96.
Unter seinem Namen wirkte in der Spätantike, vermutlich im frühen sechsten Jahrhundert, ein christlicher Schriftsteller - heute als Pseudo-Dionysios-Areopagites bezeichnet - dessen wirkliche Identität unbekannt ist. Man hielt ihn wohl noch im 12. Jh. für den früher lebenden Schüler des Apostel Paulus. Nun soll der unbekannte Autor" der Verfasser einer Sammlung von Schriften sein , die nach seinen Angaben von dem in der Apostelgeschichte (Apg 17,34) erwähnten Dionysius Areopagita stammen. "Die tatsächliche Identität des Verfassers ist der Forschung trotz mancher Vorschläge bisher nicht bekannt" (Wikipedia/Pseudo-Dionysius_Areopagita/Forschungsstand). Der Heilige hinterließ Schriften, die im Frankreich des 12. Jahrhunderts eine Renaissance erlebten. Die Lichtmetaphorik des Mystikers beeindruckte die Könige der Ile-de-France und seine Gelehrten.[1] Ein Zitat mag dies verdeutlichen:

Worte von (Pseudo-) Areopagites:" O Dunkel des Schweigens! Es wäre nicht genug, von Dir zu sagen, dass Du vor lauter Finsternis in strahlendstem Licht aufglänzest, nicht genug, von Dir zu glauben, dass Dein Glanz sich immer gleich bleibe, unstörbar und unzerstörbar, nie zu sehen und nie zu erreichen. Es wäre auch nicht genug, von Dir zu sagen, dass Du, Dunkelheit des Urgrunds, jenen vollkommenen Geist, der die Augen des Daseins und die Augen des Seins zu schließen vermöchte, mit der Leuchtkraft deiner Fülle bis zum Bersten blendest, und schöner bist als die Schönheit selbst. Das ist mein Gebet."
Ökumenisches Heiligenlexikon, Dionysios der Areopagite

"Überschönheit aber heißt die Schönheit darum, weil allem Seienden aus ihrem Besitz, jedem Ding nach seiner Art, Schönheit zugeteilt wird, und auch darum, weil sie aller Dinge Ebenmaß und Glanz bewirken und weil sie nach Art des Lichts in allen Dingen einen Widerschein ihres eigenen Strahl, dessen Quelle sie ist, auffunkeln lässt - einen Widerschein der seinerseits wieder Schönes schafft -, und weil sie alles zu sich zurückruft und weil sie alles in allem zur Einheit zusammenführt."
Naredi-Rainer, Paul; Architektur und Harmonie, DuMont, Köln, 1982, S. 19, Anm. 60.



Vor allem drei Freunde waren von den Texten beeindruckt. Sie teilten ebenso die seit der Antike vorherrschende pythagoreische- und platonische Philosophie, der zufolge die Welt das Ergebnis göttlicher Harmonien war, die sich in den einfachen Intervallproportionen mitteilten.

Die Begründer der Gotik
Es waren die Bischöfe:
- Suger von St. Denis,
- Heinrich von Sens und
- Gottfried von Chartres, der drei gelehrte der Schule von Chartres ins Amt brachte,
Bernhard von Chartres, Gilbert von von Poitiers und Thierry von Chartres.[2]

So gilt als erstes gotisches Bauwerk nicht der von Suger errichtete Chor der Abteikirche St. Denis, die nach seinem Hinscheiden zur Kathedrale umgestaltet wurde, sondern die Kathedrale von Sens (errichtet 1130/1133)[3]. Sugers Chor wurde erst 1144 geweiht[4].

"Um 1140 entstanden gleichzeitig die drei, eigentlich vier, ersten frühgotischen Kirchen, die Benediktiner­kirche Saint-Denis, die Kathedrale von Sens, der Vorgängerbau der gegenwärtigen Kathedrale von Chartres und die Zisterzienserkirche Pontigny. Verantwortlich waren
- Abt Suger von Saint-Denis sowie die Bischöfe
- Heinrich von Sens (Henri Sanglier) und
- Gottfried oder Godefroi von Chartres.
Sie waren miteinander befreundet und teilten die gleichen Überzeugungen."
wikiwand/Kathedrale von Sens

Bernhard von Clairvaux und die Zisterzienser: Ein wesentlicher Impuls bei der Entwicklung des gotischen Stils und vor allem seine Verbreitung kam durch die Zisterzienser unter Bernhard von Clairvaux. Simson schreibt dazu: "Zisterziensischer Einfluss auf die frühe Gotik steht außer Zweifel" [5] Die Zisterzienser verbreiteten den neuen Stil u.a. auch in England.

Eintausend Jahre bestimmt pythagoreisches Wissen die Kunstgeschichte.

Augustinus (354 - 430 n. Chr.) war einer der bedeutenden Einflussgrößen für die Entwicklung der Gotik, siehe oben. Er fungierte als Quelle in der Tradition pythagoreischen Wissens. Der Kirchenvater lehrte die mathematischen Natur der Musik:



"Das wahre Musikverständnis hingegen, das die Gesetze, die ihnen zugrunde liegen, kennt und diese in musikalischen Schöpfungen anwendet, nennt Augustinus die Wissenschaft von der Musik und erklärt die Natur dieser Wissenschaft als mathematisch." [1]

Das überlieferte pythagoreische Wissen gründet auf der Erkenntnis des Zusammenhanges zwischen Saitenlänge und Frequenz(Tonhöhe). Dieser Zusammenhang ist mathematisch. Aber nicht nur das. Was wir als Intervall hören, ist in Wahrheit Zahl. Genauer Zahlenverhältnis, also rationale Zahl.



Hinter dem Intervallerlebnis stehen die beiden Konstituenten des Zahlenverhältnisses. Die ganzen Zahlen, von denen der Mathematiker Leopold Kornecker (1823 - 1891) sagte:

"Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk."
Leopold Kronecker

Diese Zahlen waren für Augustinus das Unerkennbare hinter dem Wirken der Musik, hinter dem Wirken der Geometrie. "sie haben seiner Meinung nach für die bildende Künste wie für die Musik Geltung." [2]

"Seine Ansichten bilden die Grundlage für Augustinus Kunstphilosophie. Seine Forderungen in Bezug auf die Künste innerhalb der christlichen Welt, ja man könnte sagen, in Bezug auf deren Stil, haben die christliche Kunst der nächsten tausend Jahre zutiefst beeinflusst." [3]

[1] Simson Otto; Die Gotische Kathedrale; Wissenschaftl. Buchgemeinschaft, Darmstadt, 1968; S. 36.
[2] A.a.O., S. 37.
[3] A.a.O.