Aus Jean Gebsers Abendländische Wandlung.
(Kommentare in Klammern)
Kapitel 3

Das Jahr 1500
(Heraufdämmern der rationalen Bewusstseinsstruktur)

(Die Art des Denkens entspringt einer Bewusstseinsstruktur (BS). D.h. diese BS prägt die Art wie wir denken.)

Das Werden der Wissenschaft, wie es vorstehend kurz skizziert wurde, ist zugleich eine Darstellung der Entwicklung des
menschlichen Denkens. Die Menschen haben nicht immer in der Art und Weise gedacht, wie wir heutzutage denken. Da-
mit soll nicht gesagt sein, daß sie über verschiedene Gegenstände zu verschiedenen Zeiten nicht anderer Meinung gewesen
wären. Das waren sie natürlich. Darüber besteht kein Zweifel. Aber diese verschiedenen Meinungen Sind lediglich Unterschiede der
Auffassung, nicht aber des Denkprozesses als solchem.

(die mythische Bewusstseinsstruktur)

Was mit dem Begriff Denkprozeß oder Denkvorgang gemeint ist, läßt sich leicht einsehen, wenn man die Art betrachtet, wie
die verschiedenen Kulturen zu einer Anschauung über die Welt kamen. Ein Chinese zum Beispiel, der ein philosophisches
System aufstellte, dachte über die Welt nach, die er fühlte, und schuf aus einem ungetrübten inneren Gefühl, aus dieser Weis-
heit heraus, seine Philosophie. Es war gewissermaßen ein intuitives Denken, das man durchaus nicht als gefühlsmäßiges be-
wußtsein darf, da wir dazu neigen, mit dem Worte »gefühlsmäßig« ein unbeherrschtes, unkontrollierbares, wunsch- oder
triebmäßiges Wollen zu verbinden.

(die rationale Bewusstseinsstruktur)

Wenn dagegen ein Europäer ein philosophisches System aufstellte, dann verließ er sich
durchaus nicht mehr auf das von ihm beargwöhnte Gefühl, sondern hielt sich so stark wie irgend möglich an den Verstand. Er
nahm seine Zuflucht Zu dem verstandesmäßigen Wissen, das Seine Zelt von der Welt und über die Welt hatte. Er ging
nicht von dem innerlich Bewußten aus, von dem Bewiesenen. Er stützte seine Thesen nicht auf die Eingebungen
des Herzens, sondern auf die Beweise, welche ihm die Wissenschaften boten Sein Denken ist verstandesmäßiges, logisches
Bis zu der Renaissance hielt sich nun im Abendlande intuitives und Denken ungefähr die Waage.
Aber, wie Wir schon gesehen haben, bereits bei Alkmaion, später bei Platon und bei Aristoteles, lag mehr und mehr der Ak-
zent auf dem Verstandesmäßigen. Übergehen Wir jetzt die ersten vierzehn christlichen Jahrhunderte, in denen sich ein starker
Kampf zwischen diesen zwei verschiedenen Arten des Denkens abspielt, (von denen ein jeder sich eine Vorstellung machen
kann, wenn er nur an die Gnostik einerseits und an die ersten nordeuropäischen Epen andererseits denkt)

(Heraufdämmern der rationalen Bewusstseinsstruktur)

so finden Wir uns
im Ausgang des fünfzehnten Jahrhunderts plötzlich einer Bewegung gegenüber, welche mit ungeheurer Wucht in Erschei-
nung tritt und einer wahrhaften Revolution gleichkommt. Es ist die Renaissance. Die meisten verbinden mit diesem Worte eine
Erinnerung an die Kunstgeschichte, an die großen Maler jener Zeit Wie Tizian, Michelangelo, Leonardo da Vinci, um nur die
wichtigsten zu nennen. Gerade der letztere, Leonardo da Vinci, ist aber der Prototyp des europäischen Menschen: ein Universal-
geist, der dem wissenschaftlich-verstandesmäßigen Denken zum endgültigen Siege verhalf und damit zum eigentlichen Begrün-
der des europäischen Denkens Wurde, während man Alkmaion eher als den des allgemein-abendländischen bezeichnen kann.
Leonardo aber erfand die Perspektive. (Daß Paolo Uccello sie ahnend und andeutungsweise in Seinen Bildern vorwegnahm,
spielt hier keine Rolle, so wenig es eine Rolle spielt, daß man die eigentliche Geburt des Abendlandes auch in die Ent-
stehungszeit der Ilias zurückverlegen könnte, weil dort das zum Durchbruch kam, was überhaupt erst die Möglichkeit für die
neuartige Fragestellung des Alkmaion und der großen Pionier ergab: die Bewußtwerdung des Menschen. Auf die ausschlag-
gebende Rolle des in den Anfangsversen der Ilias rühmend besungenen Zornes, der im Unterschied zur Wut als heiliger Af-
fekt zu einer Konzentrierung der seelischen Kräfte und damit zu einem Seiner-selbst-inne-Werden, zu einem Sich-seiner-
selbst-bewußt-werden führt, ist merkwürdigerweise in diesem Zusammenhange noch niemals worden. Darüber,
sowie über den anderen bemerkenswerten Umstand, zur fast gleichen Zeit wie in der Ilias (um 900 bis vor Christus) im
Orient der Zorn in einem anderen Heldengesang, der Bhagavadgita, die gleiche Rolle spielend. Doch zu einer anderen Bewußt-
seinshaltung führte, darüber wird an anderem Orte (siehe Ursprung und Gegenwart Bd. I, S. 117ff.) zu sprechen sein).

Die Entdeckung der Perspektive eröffnete die rationale Bewusstseinsstruktur,
in der das räumliche und analytische, rationale und das Nützlichkeitsdenken dominiert.

Kommen wir also auf Leonardo da Vinci zurück. Er, so haben Wir gesagt, erfand, ja wandte als erster bewußt die Perspektive
an. Das aber bedeutete, daß die bis anhin mehr lineare Weltvorstellung Tiefe erhielt. Damit vollzog sich die Entdeckung
und Bewußtwerdung des Raumes. (Und es eröffnete sich Somit zugleich auch eine Tiefensicht in die Unendlichkeit des
da ja, in letzter Konsequenz, der perspektivische Punkt immer auf Unendlich gerichtet steht.) Das Denken hatte eine neue
Richtung, eine neue Möglichkeit erhalten. Es ist kein Zufall, daß zur gleichen Zeit Kolumbus Amerika entdeckte. Auch dies war
eine Entdeckung Raumes, eine Sprengung der antiken Vorstellung von der »räumlichen« (flächenhaften) Beschaffenheit
der Welt. Und nach diesen beiden Ereignissen, die kurz vor dem Jahre 15(X) stattfanden (Wobei Wir nur die Zwei wichtigsten
ins Auge denn unter anderen gehört auch die Erfindung des Buchdruckes hierher), setzt nun von allen Seiten ein
Vorstoß ins Räumliche ein: der Verstand überwindet den Raum, und was dem Verstande an Tiefe mangelt, vergleicht man ihn
mit dem Gefühl und der Intuition, das gleicht sich durch die räumliche Weite, die er nun zu beherrschen lernt, einigermaßen
aus. Denn es kommt Kopernikus, der den Himmel es kommen Kepler und Galilei. Dieser stellt als erster die These
auf, die für alle wissenschaftliche Arbeit bis auf den heutigen Tag richtung- und maßgebend geblieben ist: Alles messen. was
meßbar ist, und alles meßbar machen, was es noch nicht ist.« Es ist die verstandesmäßigste Eroberung der Welt, die es bis-
her je gegeben hat, und aus der die unserer Zeit hervorging, auf Grund derer der Europäer sich einbildet, die Natur
zu beherrschen. Dinge, die man nicht sehen konnte, werden nun plötzlich sichtbar, in dem Moment, da Galilei im Jahre 1609 in
Venedig zum ersten Male ein Teleskop auf den Hafen richtet und dort Schiffe sieht, die mit dem bloßen Auge nicht erkenn-
bar waren. Also auch hier, wie überall seit jener Zeit, eine Meisterung des Raumes, über welchen der Verstand zum Herr-
scher Wird. Selbst die räumlichen Gesetze des menschlichen Organismus erhalten nun ihren Entdecker, da der große eng-
lische Arzt Harvey den Blutkreislauf entdeckt. Und so könnte man Seiten und Seiten füllen mit der Aufzählung der Ent-
deckungen und Erfindungen, in denen der auf die Erforschung der Natur gerichtete Verstand immer größere Fortschritte
machte. Und man könnte Seiten und Seiten füllen mit den Auswirkungen dieser Forschungen, wie sie uns in den philosophi-
schen Systemen der europäischen Denker entgegentreten.

Man kann nun einwenden: das ist ja alles ganz interessant,
aber ist es nützlich? Der Nützlichkeitsstandpunkt ist im heutigen Menschen so vorherrschend, er gar nicht mehr auf den
Gedanken zu kommen Scheint, ja, daß er fast nicht mehr auf den Gedanken kommen kann, es gäbe auch noch etwas Anderes und
womöglich Wichtigeres als den Nutzen. Freilich, mit solchen Überlegungen kann man kein »Geld machen«. Dank ihrer wird
man kaum mehr oder weniger zu essen haben. Und das ist schließlich gar nicht so unwichtig. Aber genau so wenig un-
Wichtig ist es, sich einmal darüber klar zu werden, in welcher Lage sich unsere heutige Zeit eigentlich befindet.

Nun folgt eine geradezu prophetische Aussage

Es gibt Autos,
aber kein Benzin für sie; es gibt Getreide in Argentinien und Kaffee in Brasilien, aber keine Schiffe für ihren Transport, und
es gibt Interessenten, die unter einem gewissen Preis diese Waren gar nicht verkaufen wollen. Ja, das wäre des Krieges
wegen. Aber: warum war dieser Krieg? Und was hat schließlich dieser Krieg mit Alkmaion, der Denkart der alten Griechen,
Chinesen oder dem fünfzehnten Jahrhundert zu tun?

Wir sehen heute das Ende der Globalisierung und erleben schmerzhaft, dass wir Autos bauen, das Benzin dafür beziehen
wir aus anderen Ländern. Wenn die es uns nicht mehr liefern, dann fahren die Autos eben nicht mehr. Wegen des Krieges
in der Ukraine nehmen wir kein Gas mehr aus Russland und ruinieren unsere eigene Wirtschaft und unseren Wohlstand.

Dies alles sind sehr berechtigte Fragen, die geradezu dazu auffordern,
eine Antwort auf sie zu versuchen. Ober eines jedoch muß man sich klar sein: wir verfallen alle in den Fehler, im der
Spezialisierung nur immer Teilgebiete zu betrachten, und vergessen das Ganze zu sehen, hieraus glauben wir so sehr
nur an das, was wir vor Augen haben, daß das Vergangene, das ja in Einzelnen Wirkt, darüber außer acht gelassen wird.

Die Zersplitterung in einzelne Fachbereiche der Wissenschaft, die permanente Bürokratisierung. Der Ausbau der immer komplexerer
Gesetzgebung das komplexer werdende Steuersystem führt zur Stagnation und Strangulation einer freien Gesellschaft und einer
freien Wirtschaft.

Ohne die Geschichte zu verstehen, kann man die Gegenwart nicht verstehen. Die Geschichte schneiden wir heute per Cancel
Culture ab und erzeugen einen geschichtslosen und somit unbewussten, manipulierbaren Massenmenschen.

Leonardo da Vinci hat mehr mit der heutigen Krise zu schaffen als irgendein beliebiger Herr X unserer eigenen Tage. Wer nicht
die Zusammenhänge überschaut, und sei es auch nur die seines eigenen Lebens, der Wird niemals zur Klarheit kommen und stets
unzufrieden sein. Wieviel mehr gilt dies aber in Bezug auf die Entwicklung ganzer Zeitalter!